„Die Zeit heilt alle Wunden" ist vermutlich das berühmteste Zitat von Voltaire. Wenn ich jedoch erlebe, dass selbst betagte Menschen von emotionalen Momenten aus ihrer Jugend oder dem frühen Erwachsenenleben aufgewühlt sprechen, so muss ich sagen: Zeit heilt nicht alle Wunden.
Das Zitat „Die Zeit heilt alle Wunden“ mag in schwierigen Stunden Trost spenden, was vielleicht erklärt, warum es so bekannt ist und nicht in Vergessenheit gerät.
Fakt ist jedoch: es gibt Momente im Leben, da können Jahrzehnte vergehen und der Puls steigt, der Körper verspannt sich, der Blick wird eng, wenn etwas daran erinnert. Es scheint egal zu sein, wie viel Zeit vergeht. Die Zeit scheint nicht das Entscheidende zu sein.
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Zeit heilt nicht alle Wunden
Wie könnte Voltaire also darauf gekommen sein?
Das können wir an dieser Stelle natürlich nur mutmaßen.
Aus eigener Erfahrung und aufgrund dessen, was ich bei anderen Menschen beobachten und miterleben durfte, so können tatsächlich Wunden mit der Zeit heilen. Doch dabei scheint das Entscheidende nicht das Verstreichen weiterer Tage, Monate und Jahre zu sein und dass die Uhr sich weiter und weiter dreht.
Was könnte stattdessen eine Rolle spielen?
Wenn mit der Zeit ein liebevolles Zuwenden zu den eigenen Wunden erfolgt und Akzeptanz, Vergebung und Entwicklung stattfinden, dann können Wunden heilen. Mit der Zeit machen wir neue Erfahrungen, können neue Blickwinkel einnehmen, können lernen, wie wir mit unseren Emotionen besser umgehen, uns Stück für Stück aus emotionalen Verstrickungen lösen und reifer werden als Mensch. So können selbst tiefe Wunden heilen.
Ich wage dies zu schreiben, da ich selbst zahlreiche tiefe Verletzungen hatte, die mein Leben von klein auf geprägt haben. Doch heute schmerzen diese Wunden nicht mehr, sondern sind geheilt. Das merke ich daran, dass das, was mich früher getriggert hätte, es heute nicht mehr tut. Und ich merke es daran, dass ich mit dem Schmerz meiner Klienten sein kann und sie angstfrei emphatisch hindurch begleiten kann – ohne dabei selbst von einer Schmerzwelle erfasst zu werden.
Es ist also nicht die Zeit, die entscheidend ist. Es ist das, womit ich meine Zeit verbringe.
Was, wenn wir die Zeit einfach verstreichen lassen?
Klar lenken wir uns auch alle mehr oder weniger ab, um uns unseren Wunden nicht zuzuwenden. Denn phasenweise ist es nun mal echt nicht angenehm. Die Frage ist nur, wie lange das gut geht.
Bei mir kam der knallharte Fall in meinen 20ern und somit recht früh. Wegschauen war nicht länger eine Option. Ich hatte mich meinen Wunden zuzuwenden. Heute bin ich tatsächlich dankbar dafür. Denn so hatte ich recht früh in meinem Leben die Möglichkeit, mich kennenzulernen – und zwar jenseits dessen, was die Gesellschaft an mich herantrug. Sondern ich konnte mich in der Tiefe mir selbst zuwenden. Und mich selbst überhaupt erst finden. Mit dem Heilen der Wunden konnte ich mich als Mensch und Seele viel umfassender begreifen.
Und das ist der Grund, weshalb ich seitdem tue, was ich tue.
Denn wenn wir uns unseren Wunden zuwenden und diese selbst heilen, können wir umso prachtvoller erblühen und ein erfüllendes Leben führen. Wenn die Wurzeln einer Pflanze verletzt sind, kann sie nicht gut wachsen und geht womöglich ein. Wenn eine Pflanze jedoch ihre Wurzeln heilt, dann wird sie umso stärker.
Ich wünsche Dir daher den Mut, Dich Deinen Wunden zuzuwenden, und heilsame Prozesse, sodass Du in voller Kraft erblühst!
Alles Liebe
Bild: Pixabay