Kennst Du die Grundsätze, auf der die Achtsamkeit basiert? „Achtsam sein“ heißt nicht nur aufmerksam zu sein. Der Achtsamkeit liegt eine bestimmte Geisteshaltung zugrunde.
Und genau diese möchte ich Dir in diesem Beitrag etwas näher bringen. Und Dir somit zugleich die Herausforderungen aufzeigen, denen wir bei der Achtsamkeitspraxis begegnen können.
Lehne Dich also zurück und lies langsam die nachfolgenden Zeilen. Spüre auch ruhig immer wieder in Dich hinein, was das Gelesene gerade mit Dir „macht“.
Inhaltsverzeichnis
Die sieben Grundhaltungen
Die folgenden Prinzipien stellen die Basis für eine achtsame Haltung dar. Sie stehen allesamt miteinander in Verbindung. Je besser es also gelingt einen Aspekt davon zu kultivieren, desto leichter werden auch die anderen umgesetzt.
Sie sind also nicht unabhängig voneinander zu sehen. Der Übersichtlichkeit halber stelle ich sie hier jedoch nacheinander vor – die Reihenfolge spiegelt dabei keine Wertigkeit wider.
Anfängergeist
Wann hast Du das letzte Mal etwas zum ersten Mal erlebt? Kannst Du Dich daran erinnern? Und wie war das für Dich?
Mit dem Anfängergeist ist eine unvoreingenommene Haltung gemeint. Das heißt, wenn etwas geschieht, dieses möglichst so zu erleben, als es sei es das erste Mal. Oder anders gesagt: wie durch die Augen eines Kindes zu blicken, das die Welt gerade für sich neu entdeckt.
„Im Geist des Anfängers gibt es viele Möglichkeiten, im Geist des Experten gibt es nur noch wenige Möglichkeiten.“ – Shunryu Suzuki
Dies ist jedoch gar nicht so einfach. Denn unser Gehirn sucht in der Regel direkt nach ähnlichen Erfahrungen, um das Erlebte einzuordnen. Außerdem versuchen wir normalerweise (unbewusst) unsere Vorstellungen, wie etwas zu sein hat, zu bestätigen.
Übung
Nimm Dir etwas Zeit und sorge dafür, dass Du ungestört bist. Das kann überall sein, sei es in Deiner Wohnung, ja sogar im Urlaub, bei einem Spaziergang oder im Park. Setze Dich hin und widme die nächsten Minuten ganz einem bestimmten Objekt. Sei es ein Stift, eine Blume, ein Stein, ein Becher – irgendetwas. Und dann schaue Dir dieses Objekt ganz genau an, so als wäre es zum ersten Mal, dass Du so etwas siehst. Was nimmst Du wahr? Was siehst Du?
Statt mit einem Expertengeist die Welt zu erleben, gilt es also den Anfängergeist zu kultivieren.
Nicht-urteilen
Alles was wir wahrnehmen wird sofort mit dem Etikett „gut“, „schlecht“ oder „neutral“ bewertet. Wir kategorisieren alles, was wir erleben, die Menschen, die uns begegnen, unsere Gedanken und Gefühle (gerade in Gefahrensituationen ist dieser Mechanismus auch durchaus sinnvoll).
Selbst seit dem Aufruf dieses Artikels wirst Du schon das ein oder andere Urteil – vermutlich eher unbewusst – gefällt haben.
Bei der Achtsamkeitspraxis geht es darum, sich über diesen Mechanismus bewusst zu werden und nicht über alles und jeden sofort zu urteilen. Indem wir uns dessen bewusst werden, wann wir gerade wieder in dieses Reaktionsmuster verfallen, wird es möglich, in eine beobachtende Perspektive zu wechseln. Diese ermöglicht es uns beispielsweise zu erkennen, wo uns ungeprüfte Vorurteile beeinflussen oder möglicherweise unverhältnismäßige Ängste steuern.
Jon Kabat-Zinn schreibt dazu beispielsweise in seinem Buch „Gesund durch Meditation“: „Wenn der Geist Urteile fällt, geht es nicht darum, ihn daran zu hindern, und das zu versuchen wäre auch wenig sinnvoll. Wir müssen uns lediglich bewusst werden, dass es geschieht. Es ist nicht nötig, das Urteilen zu beurteilen und so alles noch weiter zu verkomplizieren.“
Es geht also darum, dem Urteil nicht nachzugehen.
Übung
Nachdem Du diesen Beitrag zu Ende gelesen hast, beobachte einfach die nächsten zehn Minuten Deine Gedanken. Allein in diesen zehn Minuten wirst Du viele verschiedene Urteile fällen. Versuche das einfach nur wahrzunehmen.
Stelle Dir vielleicht einen Wecker für zehn Minuten, damit Du nicht auch noch einen Blick auf die Uhr behalten musst. Wenn doch, dann beobachte auch hier, was für Urteile in Dir auftauchen werden.
Statt urteilend durchs Leben zu gehen, gilt es also sich dieses Bewertungsmusters bewusst zu sein und wenn dieses erkannt wird, möglichst eine weitere Perspektive einzunehmen.
Nicht-streben
„Was willst Du mal werden, wenn Du groß bist?“ Die meisten von uns werden heutzutage wohl zielstrebig erzogen. Sicherlich es gibt Ausnahmen, doch selbst wer Zuhause drum herumkommt, erlebt dies spätestens in der Schule oder auf dem weiteren Lebensweg. Karriere-Coaching und Co. spiegeln das Prinzip der Zielstrebigkeit in unserer heutigen Gesellschaft sehr gut wider.
Bei der Achtsamkeit bedeutet „Nicht-streben“ jedoch den Moment zu erleben, ohne ein Ziel damit zu verfolgen, also ganz ohne Agenda.
Achtsamkeitskurse werden teilweise jedoch dennoch mit einem Ziel belegt, zum Beispiel um Stress zu reduzieren ;-)
Übung
Wenn Du gerade beispielsweise achtsam atmest und Dir bewusst wird, dass Du Dich dadurch besser fühlen willst, dann stelle das einfach fest und kehre dann mit Deiner Aufmerksamkeit wieder zur Atmung zurück. Vielleicht gelingt es Dir ja sogar, ohne Dich selbst zu verurteilen ;-)
Statt von einem Verlangen oder einer Agenda geleitet, geht es bei der Achtsamkeit also um eine nicht erzwingende Haltung.
Loslassen
Welche Gedanken oder Situationen spielst Du immer wieder durch? Sind es angenehme oder unangenehme?
Jeder von uns kennt sie: Gedankenschleifen. Etwas, was uns immer und immer wieder für eine Weile beschäftigt. Sei es das Gespräch vor ein paar Tagen, das Dir nicht aus dem Kopf geht. Oder ein Glaubenssatz, der sich immer wieder in Dir bemerkbar macht.
Wer sich in Achtsamkeit übt, wird immer wieder auf solche „Anhaftungen“ stoßen. Loslassen bedeutet diese zunächst zuzulassen, sie zu akzeptieren und zu beobachten, was weiter geschieht.
Genau genommen lassen wir jeden Abend los, wenn wir einschlafen. Können wir nicht einschlafen, dann liegt es in der Regel daran, dass wir an einer Gefühlslage oder Gedanken festhalten.
Übung
Ertappst Du Dich das nächste Mal in einer großen Gedankenwolke, dann stelle Dir vor, wie sie weiterzieht und beobachte, was geschieht.
Statt anzuhaften oder abzulehnen, gilt es etwas es einfach sein zu lassen und somit loszulassen.
Geduld
Jede große Reise besteht aus vielen kleinen Schritten. Und bei der Achtsamkeit geht es eh nicht um das Ziel. Habe also Geduld bei Deiner Praxis, auch diese braucht Zeit, sich zu entwickeln. An manchen Tagen ist es außerdem leichter geduldig zu sein als an anderen.
Übung
Merkst Du bei Deiner Achtsamkeitspraxis, dass Du unruhig, gar genervt bist oder Dir auf einmal etwas ganz Wichtiges einfällst, dann versuche dennoch einige weitere Minuten „dabei“ zu bleiben. Kannst Du Deine Gefühle und Gedanken akzeptieren? Übe Dich so in Geduld ;-)
Statt die Ungeduld walten zu lassen, geht es darum, geduldig zu sein.
Vertrauen
Jeder begegnet auf seinem Weg Menschen, die ihn oder sie für eine Weile begleiten und unterstützen. Doch dieser „Autorität“ sollte nicht „blind“ vertraut werden. Und es geht erst recht nicht darum, zu versuchen eine Kopie dieses Menschen zu werden.
Bei der Achtsamkeitspraxis geht es auch um das Vertrauen in sich selbst.
Die eigenen Gefühle und die eigene innere Stimme leiten uns auf unserem Weg. Wenn wir lernen, nach innen zu horchen und unserer Wahrnehmung zu vertrauen, entwickeln wir Vertrauen in unser eigenes Sein.
Übung
Klar ist es hilfreich sich anfangs eine Weile daran zu orientieren, wie jemand anderes etwas macht. Doch irgendwann kommt der Punkt, in dem es gilt zu überprüfen: Passt das so wirklich für mich? Oder möchte ich es anders machen? Oder ist es überhaupt „meins“?
Statt Dir zu misstrauen und an Dir zu zweifeln, gilt es Dir und Deiner Wahrnehmung zu vertrauen.
Akzeptanz
Eine monotone Nachrichtenstimme berichtet über das aktuelle Weltgeschehen, furchteinflößende Bilder werden eingespielt. Ganz ehrlich, kannst Du in einem solchen Moment akzeptieren, dass die Lage so ist, wie sie eben ist?
Oder wie reagierst Du, wenn Du Schmerzen oder andere Symptome spürst?
Akzeptanz bedeutet alles genau so anzunehmen, wie es gerade ist. Doch wie oft gelingt das wirklich im Alltag ohne Widerstand?
Jon Kabat-Zinn sagt dazu: „Wir sind so damit beschäftigt, uns gegen die Realität zu sträuben und anzustemmen, dass uns kaum Kraft für Wachstum und Heilung übrig bleibt. Und selbst dieser Rest geht uns noch durch unseren Mangel an Achtsamkeit und mentaler Ausrichtung verloren.“
Nur in dem wir die Dinge akzeptieren, wie sie sich uns zeigen, können wir klaren Blickes und angemessen agieren.
Übung
Wenn Du das nächste Mal in einem Supermarkt an der Kasse stehst und die Schlangen neben Dir schneller voranschreiten, dann beobachte einmal: Wie reagierst Du? Kannst Du es annehmen, so wie es gerade ist? Oder regst Du Dich gar auf?
Beobachte einfach Dich selbst und nutze dieses kleine Experiment als Übung der Akzeptanz.
Und wenn Du merken solltest, dass Du Dich aufregst, dann versuche zu akzeptieren, dass Du Dich aufregst ;-)
Statt im Widerstand mit dem Hier und Jetzt zu sein, gilt es zu akzeptieren, was jetzt gerade ist.
Zwei Ergänzungen von Jon Kabat-Zinn
Jon Kabat-Zinn nennt ergänzend zu den sieben „klassischen“ Prinzipien noch die Qualitäten der Dankbarkeit und Großzügigkeit.
Dankbarkeit
Im Alltag haben wir nicht selten den Fokus auf das, was uns „fehlt“. Sei es eine harmonische Beziehung, eine erfüllende Tätigkeit oder ein den eigenen Ansprüchen entsprechender Körper. Leicht übersehen wir dass, was „passt“. Seien es die Körperfunktionen, die wir als selbstverständlich hinnehmen, wie gehen, sehen, verdauen etc. Oder die Kontakte, die uns momentan das Leben bereichern.
Selbst an einem „schlechten Tag“ wird es dennoch etwas geben, was „gut“ war. Sei es das freundliche Lächeln der Verkäuferin oder die Tasse Tee am Nachmittag.
Genau genommen geht es bei Dankbarkeit also um eine Bewertung, doch zumindest keine Abwertung. Es geht darum zu erkennen, was jetzt gerade gut ist.
Übung
Spüre jeden Abend vor dem Einschlafen kurz in Dich hinein, wofür Du in diesem Moment dankbar bist.
Statt im Mangelbewusstsein zu leben, gilt es dankbar zu sein für das, was ist.
Großzügigkeit
Wann hast Du zuletzt einfach so jemandem ein Geschenk gemacht, ausgeholfen oder ein paar mitfühlende Worte „verschenkt“ – und zwar ohne dabei irgendeine Gegenleistung zu erwarten, nicht einmal ein „Danke“.
Und wann warst Du das letzte Mal Dir selbst gegenüber großzügig?
Übung
Tue jemandem einfach so einen Gefallen oder mach ihm oder ihr ein Kompliment – jedoch ganz ohne dafür etwas zurückzuerwarten. Es geht einfach um den Moment.
Oder praktiziere die Metta-Meditation (eine Anleitung dazu findest Du hier).
Statt geizig zu sein, geht es um eine großzügige Grundhaltung.
Und so möchte ich die Vorstellung der Grundprinzipien der Achtsamkeit mit einem Zitat von Jon Kabat-Zinn beenden:
„Großzügigkeit besteht vor allem aus einem inneren Geben; sie ist ein Gefühlszustand, eine Bereitschaft, das eigene Sein mit der Welt zu teilen.“
Hast Du Lust bekommen, diese Qualitäten bewusst zu kultivieren?
Wie erging es Dir beim Lesen dieser Zeilen? Hast Du Dich bei dem ein oder anderen Punkt wieder erkannt? Wie hast Du reagiert? Konntest Du Deine Empfindung einfach „sein lassen“ und akzeptieren?
Achtsamkeit ist eine Praxis. Es ist also nichts, was man irgendwann erreicht oder „abgeschlossen“ hat. Es ist eher eine Art bzw. eine Grundhaltung zu leben.
Oder wie einer meiner Lehrer sagt:
"Achtsamkeit ist keine Technik, sondern eine Art des Seins, es entscheidet darüber, in welchem Maß wir bei der Entfaltung unseres Lebens dabei sein möchten und Reichtum und Wachstum in uns bewusst miterleben wollen." – Dr. Klaus Blaser
Vielleicht haben Dich diese Zeilen ja neugierig gemacht, Dich in nächster Zeit bewusst etwas genauer zu beobachten. Wenn Dich dieser Weg der Achtsamkeit rufen sollte, dann führe Dir ruhig hin und wieder diese Punkte vor Augen und schaue, was sich verändert, wenn Du diese nach und nach in Deinem Leben bewusster kultivierst.
Wenn Du willst, sei achtsam.
Alles Liebe
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