Wir alle folgen Regeln, die nie ausgesprochen werden. Diese Tabus – ob kulturell, gesellschaftlich oder familiär – wirken wie unsichtbare Mauern. Sie bestimmen, was wir sagen, wie wir handeln und sogar, was wir denken oder fühlen „dürfen“ und was nicht. Somit beeinflussen sie unser Erleben maßgeblich. Einige dieser Dynamiken stelle ich in diesem Beitrag kurz vor.
Wenn Du bereits bist, kannst Du für Dich erforschen, wo Dein Handeln, Sprechen, Denken und Fühlen davon gelenkt werden. Aus psychosomatischer Sicht beeinflusst dies unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden. Denn dort, wo wir uns verbiegen und etwas ablehnen, bieten wir den Nährboden für Krankheiten.
Inhaltsverzeichnis
- 1 Warum ein Beitrag über Tabus?
- 2 Tabus beeinflussen uns – ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht
- 3 Internalisierte Tabus: Die Macht der Selbstzensur
- 4 Tabus im größeren Zusammenhang: Die Macht der Fremdzensur
- 5 Tabus in Märchen
- 6 Tabus aus psychosomatischer Perspektive
- 7 Wie Du Licht in Deine Tabu-Themen bringen kannst
Warum ein Beitrag über Tabus?
Der Wiener Psychiater und Psychotherapeut Dr. Raphael Bonelli hat mich dazu inspiriert, dem Tabu-Thema hier bewusst Raum zu geben. Denn unsere Gesellschaft krank laut ihm an zu vielen Tabus. Da sich das Große immer auch im Kleinen zeigt, möchte ich Dich dazu einladen, liebevoll mit Dir umzugehen und zu erforschen, welche Tabus Dich möglicherweise beeinflussen.
Ich tue es ebenfalls und wage mich daher, Tabus hier zu thematisieren. Normalerweise mache ich dies nur im individuellen Kontext bei meinen Klienten. Nun gebe ich dem bewusst eine größere Bühne, obwohl es doch etwas ist, worüber normalerweise nicht gesprochen wird. Entsprechend bin ich neugierig, inwiefern dieser Beitrag Anklang findet.
Also los, wagen wir den Sprung und schauen wir mal, was für Mauern wir entdecken können.
Lass uns zunächst das Thema grundsätzlich betrachten.
Tabus beeinflussen uns – ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht
Wie wir handeln und worüber wir sprechen hat mit unseren Entscheidungen zu tun, die wir jeden Moment treffen. Und diese werden von Tabus beeinflusst. Da Tabus jedoch zum Teil auf so tiefer Ebene in uns wirken, dass wir uns ihrer nicht einmal bewusst sind, können wir uns auch nur damit auseinandersetzen, wenn wir sie im ersten Schritt überhaupt erkennen.
Daher gehe ich im Folgenden auf einige Dynamiken ein, die aufzeigen, wie Tabus uns beeinflussen. Mit etwas Offenheit und Neugier wird es so möglich, auch verborgene Tabus zu erkennen, die auf subtile Art und Weise wirken.
Internalisierte Tabus: Die Macht der Selbstzensur
Tabus funktionieren so gut, weil wir sie verinnerlicht haben:
- „Das macht man nicht“
- „Darüber spricht man nicht“
- „Das denkt man nicht“
- „Das fühlt man nicht“
Es sind verallgemeinerte Regeln, die teilweise so tief in uns verankert sind, dass wir uns darüber nicht einmal bewusst sind. Ihre Wurzeln liegen meist in den ersten Lebensjahren und sind uns daher so vertraut, dass wir sie gar nicht hinterfragen.
Daher liegt es in der Natur der Sache, dass es schwierig ist, ein Tabu überhaupt zu erkennen. Lass uns also ein paar Beispiele betrachten:
„Das darf ich nicht fühlen“, wäre eine Art von Tabu. Beispielsweise kann durch Erfahrungen in der Kindheit das Tabu entstehen „Ich darf nicht wütend sein“ oder „Ich darf keine Schwäche zeigen“.
„Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ oder „Reiß dich gefälligst zusammen“ oder „Stell dich nicht so an“ können Sätze aus der Kindheit sein, die unsichtbare Mauern in unserer Gefühlswelt darstellen. Als Kind sind wir auf die Zuwendung unserer Bezugspersonen angewiesen. Aus Angst vor Ablehnung oder gar Isolation werden daher Bereiche unseres Seins oder Erlebens tabuisiert und somit verdrängt.
Wenn etwas scham- oder schuldbehaftet ist, kann dies ebenfalls ein Tabu werden. Denn diese Gefühle verstärken die Tendenz etwas zu verschweigen. Sexualität ist beispielsweise ein sehr schambehaftetes Thema.
Angst spielt ebenfalls eine zentrale Rolle bei Tabu-Themen. So wundert es nicht, dass der Tod ein „typisches“ Tabu-Thema ist.
Geld ist ebenfalls ein sehr verbreitetes Tabu-Thema, denn „über Geld spricht man nicht“.
In dieser bewusst kurzen Darstellung von Tabus wird deutlich, dass sie unsere Gefühlswelt tiefgreifend beeinflussen können. Und unsere Gefühle beeinflussen wiederum unsere Entscheidungen, denn es gibt keine rein rationalen Entscheidungen. Ob wir uns nun dessen bewusst sind oder nicht beeinflussen Tabus somit unsere Entscheidungen und unseren Alltag.
Lass uns eine weitere Perspektive dazu nehmen und den Blick weiten:
Tabus im größeren Zusammenhang: Die Macht der Fremdzensur
Jeder kommt in seinem Leben in Kontakt mit Tabus. Sicherlich wird Dir in den letzten Absätzen das ein oder andere Tabu aus Deiner Erlebniswelt präsent gewesen sein.
Ich möchte die Perspektive nun etwas ausdehnen und zwei Dynamiken in Bezug auf größere Gruppen in die Betrachtung mit einbeziehen. Denn wenn wir uns dieser Dynamiken bewusst sind, können wir unsere Erfahrungen mit einer anderen Brille betrachten und somit möglicherweise anders agieren.
Gruppendenken
In den 1970er-Jahren hat der Psychologe Irving Janis den Begriff „Gruppendenken“ geprägt. Dieser beschreibt die Neigung von Menschen in Gruppen, sich der Mehrheitsmeinung anzuschließen – selbst wenn sie eigentlich anderer Meinung sind oder Bedenken haben. Es geschieht oft aus dem Wunsch nach Harmonie, Zugehörigkeit oder aus Angst vor Konflikten. Das Ergebnis sind häufig realitätsferne oder ungünstige Entscheidungen, weil kritische Stimmen unterdrückt oder nicht gehört werden.
Schweigespirale
Dieses Modell wurde ebenfalls in den 1970ern entwickelt. Die Politikwissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann beschreibt damit das Phänomen, dass Menschen ihre Meinung aus Angst vor sozialer Isolation nicht äußern, wenn sie sich in der Minderheit wähnen. Dies führt dazu, dass scheinbare Mehrheitsmeinungen dominanter werden. Wenn wir glauben, eine Meinung sei unpopulär, schweigen wir folglich – auch wenn sie sich für uns selbst stimmig anfühlt.
Wie Gruppendenken und Schweigespirale zusammenwirken können
Beide Konzepte erklären, warum Menschen ihre Ansichten nicht offen vertreten. Während Gruppendenken Gruppenentscheidungen prägt, beschreibt die Schweigespirale gesellschaftliche Meinungsklimata. Beide können zusammenwirken: Eine als Mehrheit wahrgenommene Gruppenmeinung kann durch eine Schweigespirale verstärkt werden, was dann Gruppendenken begünstigt.
Tabus in Märchen
Interessant ist in diesem Kontext auch das Märchen „Des Kaisers neue Kleider“ von Hans Christian Andersens. Es handelt von einem eitlen Kaiser, der von zwei Betrügern überredet wird, Kleider zu kaufen, die angeblich nur für Kluge sichtbar sind. Weder der Kaiser noch seine Untertanen können die Gewänder sehen. Aus Angst, als dumm oder unfähig zu gelten, spricht dies jedoch niemand aus. Erst als ein Kind die Wahrheit sagt: „Er hat ja nichts an!“ ist die Kraft des Tabus gebrochen.
Schauen wir nun, wie Tabus sich auf unsere Gesundheit auswirken können:
Tabus aus psychosomatischer Perspektive
Bei psychosomatischen Prozessen geht es darum, etwas wieder ins Leben zu integrieren bzw. sich damit auszusöhnen. Wenn etwas durch ein Tabu aus dem Leben ausgegrenzt wird, so ist dies jedoch genau das Gegenteil von Integration. Tabus tun uns aus psychosomatischer Perspektive also nicht gut.
Neulich kam eine Frau zu mir zur psychosomatischen Beratung, die eine Krankheit hat, die sie heilen möchte. Jedoch hat sie bisher noch nicht davon gehört, dass dies jemand bereits geschafft hätte. Da es dabei um eine Krankheit geht, die sehr mit Tabu-Themen behaftet ist, wundert es mich nicht. Es braucht Mut und Entschlossenheit sich mit dem auseinander zu setzen, was so Tabu-behaftet ist.
Tabus wirken wie dunkle Schatten im Unbewussten. Sie können uns krank machen, wenn wir einen Bereich des Lebens dadurch ablehnen.
Ein Beispiel
Lass mich ein Tabu-Thema ansprechen, um dies zu verdeutlichen. Wenn es Dich triggern sollte, dann frage Dich gerne warum? ;-)
Die Frauenbeschwerden haben in den letzten Jahrzehnten massiv zugenommen. Eigentlich müsste man doch meinen, dass wir Frauen dank der Emanzipation mehr in unserer Kraft sind. Doch jene Frauen, die von Frauenleiden geplagt werden, leben in der Regel entgegen ihrer natürlichen Veranlagung sehr stark den männlichen aktiven Pol und vernachlässigen ihre weibliche Seite oder lehnen diese gar ab.
Das könnte ich nun natürlich noch viel differenzierter ausführen. Doch darum geht es hier gerade nicht. Es sollte nur ein plakatives Beispiel sein, das bewusst aus der Tabu-Ecke kommt und das zugleich recht verbreitet ist. Denn das dies keine Seltenheit ist, stelle ich immer wieder in meiner Praxis fest. Und ja, es gibt auch viele Frauen, die sich ganz wunderbar in frühere Männerdomänen eingefügt haben und beispielsweise Führungspositionen ausfüllen, dies auf ihre Art und Weise tun, darin ihre Erfüllung finden und denen es gut dabei geht. Wir Menschen sind Individuen und es geht uns gut, wenn wir ein Leben führen, das uns entspricht. Entscheidend ist, was für das Individuum stimmig ist.
Es ist jedoch nicht ungewöhnlich, dass wir uns ein Leben aufbauen, von dem wir meinen, das es das richtige ist, weil es uns von außen so suggeriert wird und wir dies ungeprüft für uns übernehmen. „Normopathie“ ist der Fachbegriff dafür. Kurz gesagt bezeichnet es eine übertriebene Anpassung an gesellschaftliche Normen, bei der die eigene Individualität aufgegeben wird. Und da gesellschaftliche Normen dabei eine so zentrale Rolle spielen, wirken hierbei natürlich auch gesellschaftliche Tabus mit.
Was gilt es zu heilen?
Wir würden alle davon profitieren, wenn wir erkennen, wo wir uns im Denken, Fühlen, Handeln und Sprechen begrenzen. Nur wenn wir uns überhaupt darüber bewusst sind, können wir erforschen, worum es bei diesem „Verbot“ geht und was in Heilung gebracht werden möchte. Womit gilt es sich auszusöhnen? Und was würde ich anders tun, sagen, denken und fühlen, wenn dieses Tabu nicht existieren würde?
Tabus sind wie dunkle Schatten. Wir können jedoch bewusst unser Licht des Bewusstseins darauf werfen. So können wir entscheiden, wie wir damit umgehen. Indem wir prüfen, welche unsichtbaren Regeln unser Handeln leiten, gewinnen wir die Freiheit, authentischere Entscheidungen zu treffen.
Solange Tabus uns unbewusst beeinflussen, lenken sie uns und wir sind nicht frei in unserem Denken, Fühlen, Handeln, Sprechen – wir können also nicht authentisch leben. Und da, wo wir etwas ablehnen oder wo wir uns begrenzen lassen, liefern wir den Nährboden für Krankheiten. Es lohnt sich daher zu erforschen, welche Tabus einen selbst beeinflussen.
Ich will damit übrigens nicht sagen, dass es leicht ist, sich mit Tabu-Themen auseinanderzusetzen. Denn je nach Art des Tabus hat dies entsprechende Auswirkungen auf unsere Lebensart und -weise. Doch nur wenn wir uns bewusst damit befassen, können wir auch bewusst Entscheidungen treffen, wie wir damit umgehen wollen und welche Konsequenzen wir bereit sind zu tragen.
Wie Du Licht in Deine Tabu-Themen bringen kannst
Es ist gar nicht so leicht, eigene Tabus aufzudecken.
Alles beginnt mit der Absicht
Denn nur wer bereit ist hinzuschauen, kann Tabus auch entdecken. Es lohnt sich daher, bewusst die Entscheidung zu treffen, neugierig zu erforschen, was für Tabus einen selbst möglicherweise beeinflussen.
Hier sind ein paar Anregungen, die Dir dabei helfen können:
- Was kam Dir gerade beim Lesen in den Sinn?
- Gibt es ein Gefühl, dass Du selbst nicht kennst oder das Du bei anderen ablehnst?
- Worüber wurde in Deiner Ursprungsfamilie nicht gesprochen?
- Welches Thema vermeidest Du?
Halte bei Deinen Entscheidungen inne und frage Dich: „Welches Tabu könnte hier mitspielen?“
Ertappst Du Dich vielleicht auch mal dabei, dass Du etwas denkst, aber nicht aussprichst? Auch das deutet auf ein Tabu hin. Welche Gedanken filterst Du sofort aus, bevor Du sie aussprichst?
Jedes Tabu, das Du erkennst, ist eine Einladung.
Du kannst Dir Fragen stellen wie:
- „Warum sollte ich eigentlich nicht darüber reden? In welchem Kontext könnte ich dennoch darüber sprechen?“
- „Würde ich diese Regel selbst wählen, wenn ich neu anfangen könnte?“
- Würde ich das auch tun, wenn niemand zuschaut?“
Deine Tabu-Liste
Wenn Du magst, dann notiere Dir eine Woche lang Situationen, in denen Du Dich selbst zensierst. Welche Themen vermeidest Du – aus Angst vor Ablehnung oder Unbehagen?
Nimm am Ende der Woche die Liste und schreibe das Tabu, das am wenigsten beängstigend auf Dich wirkt, ganz oben auf ein leeres Blatt. Liste darunter die anderen Tabus auf, sodass jenes, welches Dich am meisten einschüchtert, am Ende ganz unten steht. Hast Du die Liste erstellt, richte den Fokus auf das oberste Tabu. Was wäre eine Möglichkeit für Dich, Dich damit auseinanderzusetzen?
Und wenn Du magst, kannst Du Dich Stück für Stück in einem für Dich passenden Tempo mit den weiteren Punkten auf der Liste befassen.
Entwickle Deinen individuellen Umgang mit dem Thema
Sobald wir uns ein Tabu bewusst machen, können wir auch bewusst entscheiden, wir wir damit umgehen. Und da es dafür kein 08/15 Rezept geben kann, findest Du hier auch keine entsprechende Anleitung.
Es beginnt jedoch stets damit, das Tabu zu erkennen und zu begreifen, wie es sich auf Dich auswirkt.
Dann hast Du die Wahl: Wie gehst Du nun mit dem Thema um? Vielleicht ist es etwas, das Du mit einem eng Vertrauten besprechen möchtest. Oder ist es etwas, dessen Natur Du zunächst selbst etwas erforschen willst? Vielleicht willst Du Dich auch zunächst mehr darüber informieren, um es besser zu verstehen. Oder gibt es Möglichkeiten, sich mit Menschen auszutauschen, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben? Oder möchtest Du Dich professionell begleiten lassen, um Dich mit dem Thema auszusöhnen?
Es liegt in der Natur des Tabus und an Dir selbst, welcher Weg für Dich in Frage kommt. Letztlich geht es darum, dass Du für Dich einen stimmigen Weg findest.
Die Entscheidung liegt bei Dir, wie Deine Schritte aussehen. Wo fängst Du an?
Ich wünsche Dir befreiende Erkenntnisse auf diesem spannenden Weg der Selbsterforschung!
Alles Liebe
Bilder: Pixabay